Wir stehen wieder mal vor den Arbeiten
Bernadett Madörin‘s. Es sind grosse Grafitzeichnungen und kleine Aquarelle. Es
sind vergrössere Abbildungen von einzelnen Pollenkörner, die kleinen
Bestandteile der Blütenstaub. Ein Pollenkorn ist etwa 10 Mikrometer im
Diameter, halb so dick, wie ein menschliches Haar. Ohne Mikroskop sind Pollenkörner
wahrnehmbar nur in grossen Mengen. Wenn man unvorsichtig durch blühendes Gebüsch
geht, bekommt gelbe Schultern oder Rücken.
Es gibt Menschen, die nie durch einen
blühenden Wald, oder Gebüsch gehen dürfen. Der Polen ist, was ihnen Angst
macht, sie niesen, husten, weinen und geraten sogar in Lebensgefahr beim
Kontakt mit ihm. Dabei gibt es nichts Natürlicheres als den Blütenstaub. Ihm
verdanken die blühenden Pflanzen Millionen von Jahren erfolgreiche Evolution.
Vielleicht aber genau die Natürlichkeit diesen kleinen, für die Entfaltung der
Natur unentbehrlichen Teilchen, reizt unsere Immunsystem so übertrieben. Ein
Immunsystem, welche durch die enormen Anstrengungen, sich sicher hinter
Fenstern und Türen vom Feind Natur zu verstecken, überempfindlich geworden ist.
Jetzt aber, da wir das Gefühl haben, von
der Natur sicher zu sein (was noch lange nicht stimmt) finden wir Natur schön.
Wir finden sie interessant und wir wollen alles wissen über sie. Das was wir
glauben, entdeckt zu haben ist, dass die Natur aus Dinge besteht. Wir nehmen
alles, was atmet uns sich bewegt, alles, was wächst und sich vermehrt,
auseinander und benennen seine Teile - Spezies, Exemplare, Organe, Zellen,
Organellen, Moleküle - alles Bestandteile verschiedenen Mechanismen, Dinge,
Maschinen. Wir glauben wahrhaft, dass die Natur aus Dinge besteht, manche
nützlich, manche gefährlich, nur, weil wir uns selbst immer nur nach Dinge
richten.
Manchmal, aber erkennen wir, dass es gar
keine Dinge gibt. Es gibt Materie, eine einzige Materie, welche mit
unglaublichem Geschick ihre Formen wechselt. Mal ist sie eine Wolke Sternenstaub,
mal ist sie ein Berg, mal eine Blume, mal ein Mensch. Die Atome wandern von
anorganische in die lebende Materie und umgekehrt, von einem Lebewesen in einem
anderen. Vielleicht ist ein der Kohlenstoffatomen meines Körpers mal ein Teil
eines Dinosauriers gewesen, vielleicht stammt er aus einem Meteorit vom Himmel.
Wir wissen, dass die Materie gegliedert
ist und wir staunen, wie eigenständig ihre Einzelteile sind. Früher glaubte
man, dass jeder Baum, auch jeder Stein eine Seele hatte. Heute finden sich
immer mehr Beweise dafür, dass Strukturen nach Selbsterhaltung streben. Es ist
so, als ob sich aus der Einheit der Materie, eine Eigenständigkeit ihrer
Einzelteile herleiten lässt.
Nach den Beobachtungen des chilenischen Biologen Francisco Varela, verfügen
alle lebende Strukturen, über die Fähigkeit zur, wie er es nennt Autopoiesen,
oder Selbstherstellung. Man leitet aus seine und aus andere Beobachtungen und
Experimente den Schluss, dass sobald eine Struktur, die Leben ermöglicht,
vorhanden ist, automatisch die Fähigkeit entsteht, sich Ziele zu setzten, es
entsteht Willen. Subjektivismus ist kein Eigenschaft der Bewusstsein höher
entwickelten Wesen, sonder sie entsteht schon auf zelluläre und körperliche
Ebene.
Jedes Lebewesen ist vom Streben, sich zu
erhalten und sich möglichst weit zu entfalten getrieben. Sogar dem einzelnen
Teile einer Zelle folgen diese Prinzipien. Auch ein Eiskristall, einmal bei
bestimmte Temperatur entstanden, bleibt bei viel höhere Temperaturen eine Weile
erhalten.
Wir sind gewohnt vom Biologieunterricht,
das was in einer Zelle passiert, als getrennte entgegen gesetzten Prozessen zu
betrachten - Abbau und Aufbau. Doch es
finden sich immer mehr Beweise dafür, dass all diese Prozesse möglich sind, nur
wenn sie ungetrennt geschehen. Abbauende und aufbauende Strukturen arbeiten
jede für sich und dadurch steuern und unterstützen sich einander. Daraus
entsteht eine perfekt funktionierende Zelle. Nur das Selbsterhaltungsstreben
emanzipierter Strukturen ermöglicht ein vernetztes Ganzes. Eine Zelle ist ein
vernetztes Ganzes, ein Körper ist das, die Natur ist ein vernetztes Ganzes. Es
sieht so aus, dass, nur wenn jeder das macht, was er will, nur dann herrscht
Harmonie.
Warum erzähle ich das alles hier. Ganz
einfach, weil ich fasziniert bin, von dem Wandel der Naturwissenschaften, der
jetzt gerade passiert. Halbwahrheiten, wie der Darwinismus werden als
herrschende Theorien langsam abgeworfen. Die Konkurrenz wird nicht mehr als
eine Antriebskraft der Evolution gesehen, sondern, als ein störendes
Nebeneffekt, als etwas, das dem Streben nach Selbsterhaltung jeder einzelnen
Lebewesen im Wege steht, also vermeiden es die Lebewesen, in dem sie sich aus
dem Wege gehen und verschiedene ökologische Nischen besetzen. Nicht gnadenloser
Kampf zwischen irgendwelche Stärkeren und Schwächeren, sondern das Respekt von
der Subjektivität der anderen, der aus der eigenen Subjektivität entsteht,
leitet die Weiterentwicklung der Lebewesen.
Und was hat das alles mit den Zeichnungen
von Bernadett Madörin's zu tun? Schönheit entsteht aus der Eigenständigkeit.
Diese erstaunliche Formen, die unsere Fantasie erregen, sie sind der Ausdruck
der absoluten Subjektivismus der Pflanzen. Und Polen ist ein starkes Beispiel
dafür. Es ist das sicherste Bestimmungsmerkmal für die Botaniker. Durch den
Vergleich von Polenkörner kann man Verwandtschaftslinien nachweisen. Ausserdem
ist die äussere Hülle der Pollenkörner das meist resistente Material der Natur,
den wir kennen. Ein Pollenkorn, wie man es auf diesen wunderbaren Zeichnungen
sieht, strotzt gerade von Subjektivismus mit seinen Stacheln und Wölbungen -
"Ich werde mich fortpflanzen, darin
besteht kein Zweifel". Und diese Aussage trägt jeder einzelner Pollenkorn
von tausenden, die aus einer einzigen Blüte stammen. Die Polle ist nur eine
Fortpflanzungszelle, doch sie ist genau so eigenwillig, wie die Pflanze, die
sie sendet.
Wir Menschen sind nicht viel anders, egal,
was für Pflichten und äussere Aufgaben wir erfüllen, egal, was wir für
Verhaltensweisen nachmachen, jeder von uns ist in sich ein Pollenkorn, der nur
Leben in sich trägt und nichts mehr. Egal, was mit uns passiert, wir wollen
leben und noch mehr leben, uns entfalten, so weit, wie es geht. Und oft geht es
nicht so weit, wie wir möchten. Oft sehen wir uns gezwungen, uns zu bremsen,
zurück zu halten. Mit schnell
gebasteltem Egoismus versuchen wir unseren unterdrückten natürlichen
Subjektivismus zu ersetzten, was und die angeborene Würde raubt. Und eigentlich
brauchen wir so was nicht, weil egal, wie gekränkt wir sind, schlägt das
ursprüngliche Prinzip des Lebens auch in uns immer durch.
Kunst ist auch ein Ausdruck dafür. Uns fasziniert keine nachgemachte
zwanghafte Kunst, sonder eigenständige, subjektive, mit Selbsterhaltungsdrang erfüllte Kunst. Die
Bilder von Bernadett faszinieren mit doppelter Selbständigkeit - mit dieser als Kunstwerke und mit der
Eigenständigkeit der Pollenkörner.
Die Künstlerin hat in ihren grossen
Grafitzeichnungen durch mühsame Arbeit, reale, vergrösserte Aufnahmen von Polen
abgebildet. Durch diese intensive Begegnung hat sie ihre eigene Fantasie
erweitert und die kleinen Aquarelle gestaltet, die erfundene Pollenkörner
zeigen. Die Idee, die Faszination, lebt weiter als eine neue Welt, bewohnt von
Subjekten mit dem Willen zur Selbsterhaltung, wie alles in der Natur. Die
abgebildete, genau so, wie die erfundene Pollenkörner sind dadurch genau so
natürlich und real, wie die, Sommerluft erfühlende, echte Pollen. Es gibt im
Grunde nichts Künstliches. Es gibt nur verdrängte und betäubte, oder sich
entfaltende Natur. Vielleicht ist Allergie ein Ausdruck geschwächter Beziehung
zum allumfassenden Netzt eigenständiger, lebenden Strukturen. Bernadett hat mir
mitgeteilt, sie hoffe, ihre Arbeiten werden vielleicht das Leiden der Menschen
mit Pollenallergie etwas stillen. Vielleicht helfen sie unser überreizbarer
Immunsystem sich zu erinnern, wer Freund ist und wer Feind. Ich halte es für
durchaus möglich, das genau diese Bilder das ultimative Heilmittel
Pollenallergie sind.
Alexander Obretenov
Künstler und Naturwissenschaftler
Waldibrücke, 13.11. 2008